Erstmals veröffentlicht am
01.01.2000

Therapiezentrum Osterhof - Die stationäre Behandlung eines Kindes mit ADHS

Die Falldarstellung wurde dem Beitrag von Dr. Hans Hopf, „Unruhige, unbeherrschte und aggressive Kinder“ entnommen, in Ursula Schulz (Hrsg.): Kindsein heute, Stendel Verlag Waiblingen, 2000.

Dr. Hans Hopf

Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Dozent und Kontrollanalytiker

Wir nehmen im Osterhof Kinder mit unterschiedlichen Symptomen auf. Seit Mitte der 90er Jahre kamen zunehmend Anfragen wegen Kindern mit der Symptomatik ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität). Wir haben diese Symptomatik niemals einseitig auf ein genetisch bedingtes Defizit zurückgeführt, wie oft vermutet (oder gehofft). Vielmehr haben wir auch die Entstehung dieses Krankheitsbildes als Ergebnis von ungünstigen Entwicklungsbedingungen – bei einer vorhandenen, eventuell angeborenen Verletzlichkeit – betrachtet.

Der 9-jährige Sven zeigte alle Symptome dieses Störungsbildes in der ausgeprägtesten Weise:

- Er konnte sich nicht beherrschen,

- konnte nichts durchhalten und

- konnte sich vor allem nicht längere Zeit konzentrieren.

- Er war in ständiger Unruhe, unaufhörlich getrieben und in Bewegung.

Nun kennen wir das alle auch aus eigener Erfahrung: Während heftiger Erregungszustände, bei Freude, Angst, Wut, gelingt es uns gelegentlich auch nicht mehr, Gefühle ausschließlich in uns und in der Phantasie zu behalten, und auch bereits reifere Persönlichkeiten können schon mal mit Auf- und Abgehen, Händeklatschen, zitternden Beinen, Nägelkauen, etc. reagieren. Das geschieht jedoch dann, wenn wir an unsere Grenzen stoßen und das Fass mit den Gefühlen zum Überlaufen kommt.

Bei Sven war das allerdings immer so. Er konnte sich – wie schon gesagt – nicht beherrschen, konnte nichts durchhalten und konnte sich vor allem nicht längere Zeit konzentrieren. Sven wollte immer der Größte sein, er setzte andere Kinder herab, kränkte sie und zerstörte gelegentlich sogar deren Sachen. Außerdem litt der Junge an häufigen Kopfschmerzen und hatte deutliche Essprobleme. So fand er keine Freunde, zunehmend erfuhr er wegen seines Verhaltens Ablehnung, und bald war er zum Sündenbock geworden.

Die Probleme mit dem Jungen hatten bereits im ersten Lebensjahr begonnen. Schon damals war er sehr unruhig gewesen und hatte nur selten durchgeschlafen. Als Sven in den Kindergarten kam, konnte er sich an keinerlei Regeln halten, schlug die anderen Kinder, aber auch die Erzieherinnen, trat und beleidigte sie, nicht selten mit übelsten Ausdrücken. Dieses Verhalten änderte sich auch nicht, als er in einen speziellen Kindergarten kam. Auch dort rannte er ständig herum, störte andere Kinder beim Spiel, warf mit Spielsachen und gelegentlich sogar mit Stühlen, zerstörte, was andere Kinder konzentriert und kreativ aufgebaut hatten. Auch hier gewann er natürlich keinerlei Freunde.

Ab dem 5. Lebensjahr erhielt Sven Ritalin, was nach Aussagen der Eltern die Aufmerksamkeitsstörung und sein soziales Verhalten etwas besserte. Eine ambulante Psychotherapie bei einer niedergelassenen Psychotherapeutin brachte keine sichtbare Besserung, weitere Symptome machten das Zusammenleben in der Familie, aber auch in anderen sozialen Gefügen nur schwer erträglich: Sven musste eine Schule für Erziehungshilfe besuchen.

Wie sah die Vorgeschichte dieses schwer gestörten Kindes aus? Aus Gründen der Diskretion sei lediglich soviel gesagt, dass Sven ein unerwünschtes Kind war und in seinen ersten Lebensjahren vielfältige Beziehungsabbrüche erlebt hatte. Die Mutter war mit 17 Jahren von einem damals 21-jährigen Mann schwanger geworden. Bei der Geburt war das Kind klein und untergewichtig, es trank von Anfang an schlecht, und die Mutter schildert den kleinen Sven aus heutiger Sicht als dünnhäutig, schreckhaft und ängstlich. Er habe sehr viel geschrien, manchmal so heftig, bis er ganz blau angelaufen sei. Weil der Junge aber so bedürftig erschien, wurde ihm alles gewährt, und es wurden ihm auch keine Grenzen gesetzt. Dies überbeschützende, verwöhnende Verhalten der Eltern setzte sich auch weiterhin fort, mittlerweile hatten die Eltern sichtlich Angst, ihm noch etwas zu verweigern, weil sie seine heftigen Affektdurchbrüche fürchteten. Denn inzwischen ertrug der Junge nicht mehr auch nur geringste Frustrationen.

Die ambulante Psychotherapie des Jungen hatte keine ausreichenden Veränderungen erbracht, so dass er im Osterhof aufgenommen wurde. Im folgenden möchte ich aus der stationären Psychotherapie des Jungen berichten.

Sofort, als Sven im Therapiezentrum ankam, gab es ringsum Auseinandersetzungen, da er sich absolut respektlos zeigte und keinerlei Grenzen akzeptieren mochte. Er tobte durchs Haus, scheinbar ohne jemanden zu bemerken, rutschte das Treppengeländer herunter, gab ununterbrochen Geräusche von sich, sang, schrie, pfiff, stürzte sich auf eine beliebige Person und geriet in ständigen Streit mit den anderen Kindern.

Nach wenigen Tagen verschwand dieses Verhalten, und Sven zeigte mit einem Mal eine heftige Heimwehreaktion, wie sie andere Kinder niemals gezeigt hatten. Er weinte immer wieder, aß nichts mehr, nahm nicht mehr am Gruppengeschehen teil. Er wollte nicht mehr hierbleiben und klagte über heftige Kopfschmerzen. Mit einem Male wirkte er klein und zerbrechlich. Er begann nachdrücklich nach seinen Tabletten zu verlangen und meinte, dass es ihm erst besser ginge, wenn er sein Ritalin und Aspirin bekäme, denn die Medikamente waren zu Beginn seines Aufenthaltes vom Arzt abgesetzt worden. Im Osterhof setzen wir Ritalin in der Regel relativ schnell ab. Wir wollen die Kinder so erleben, wie sie sind. Wir vertreten einen ganzheitlichen-verstehenden Therapieansatz, den der Gründer des Osterhofs, Ulrich Schmid, entwickelt hat, in welchem die Beziehung an erster Stelle steht.

Kurz darauf setzte die Unruhe Svens mit voller Wucht von neuem ein. Er konnte sich abermals mit nichts beschäftigen, sichtlich keine dauerhaften Beziehungen eingehen, lief wieder nur herum und versuchte vor allem immer wieder, andere Kinder zu kränken und herabzuwürdigen. Zunehmend wirkte er wie ein Strudel, in den andere Kinder mit ihrem Verhalten und ihren Affekten hineingezogen wurden.

Sven zeigte sich in seiner ganzen extremen Dünnhäutigkeit, mit seinen durchlässigen Ichgrenzen, und er hielt darum einfach nichts aus: Er konnte nicht stillsitzen, nicht aufmerken, nicht spielen, alles mündete über kurz oder lang in eine hektische Unruhe. Andererseits infizierte er die Kinder mit seinem unruhig-aggressiven Verhalten, indem er sie störte, sie ebenfalls aggressiv machte, so dass sich in der Gruppe bald extreme Unruhe ausbreitete. Er bewies also auch eine ausgeprägte Fähigkeit, seine Erregung in anderen Menschen unterzubringen.

Sven war zudem unfähig, sich in irgendeiner Weise kreativ zu beschäftigen. Er störte beim Geschichten-Vorlesen, brach so gut wie jedes Spiel ab, störte andere beim Spielen und langweilte sich ununterbrochen. Es war, als stünde er ständig unter Strom und könnte seine Spannungen nicht anders als motorisch abführen. Nicht nur, dass er ständig nach seinen Tabletten jammerte, auch bei den Mahlzeiten zeigte er ein extrem gieriges Verhalten, mochte nicht warten, und aß sichtlich, ohne genießen zu können. So wurde immer deutlicher eine Suchtstruktur erkennbar. Besonders eindrücklich zeigte sie sich anfänglich im Bereich seiner Psychopharmaka, nach denen der Junge – wie schon erwähnt – ständig verlangte und von denen er psychisch abhängig war.

Augenfällig wurde die Suchtstruktur aber auch in den geschilderten Verhaltensformen beim Essen und beim Verzehr von Süßigkeiten. Immer musste Sven etwas im Mund haben. Es war, als müsse er eine grenzenlose Bedürftigkeit stillen, eine extreme innere Leere auffüllen. Es schien dabei so, als könnte er seine Grenzen nicht spüren, und forderte seine Beziehungspersonen auf, ihn – wie bisher seine Eltern – mit Süßigkeiten zu versorgen. Da dies nicht geschah, zumindest nicht in dem Maße, wie er es sich vorstellte, forderte er sie telefonisch und brieflich von den Eltern. Diesen fiel es, wie früher, schwer, ihm Grenzen aufzuzeigen, so wie sie es in anderen Bereichen auch nur schwer gekonnt hatten. Gelegentlich lief Sven herum, im Munde mindestens zehn Kaugummis wälzend.

Trotz ständigen Nachdenkens über Svens Verhalten in der begleitenden Psychotherapie, schickten ihm die Eltern anfänglich Pakete mit Süßigkeiten. Er suchte jetzt seine Spannungen und seine Unruhe mittels exzessiven Kaugummikauens zu bewältigen. Langsam begriffen seine Eltern, dass sie mit ihrer verwöhnenden Haltung das Suchtverhalten des Jungen geradezu förderten. Die Paketsendungen unterblieben, auch die Fresspakete anlässlich der Besuche. So musste der Junge im Laufe der Zeit immer mehr Frustrationen aushalten, was ihm anfänglich sehr schwer fiel, ihm jedoch zunehmend besser gelang. Erkennbar wurden winzige Fortschritte, wenn Sven nicht mehr gleich ausrastete, wenn er mit einem einzigen Kaugummi zufrieden war, wenn er seine Hausaufgabe nochmals machen musste, weil sie einfach nicht zu lesen war, und er lediglich ein wenig herummotzte.

Nach vielem Essen, aber auch in Trennungssituationen, z.B. nach Besuchen der Eltern, erbrach sich Sven regelmäßig, was zeigte, dass er auf einem niederen Level einer rein körperlichen Einverleibung fixiert geblieben war. Trennungen stellte er in körpernaher Weise dar, indem er Inneres nach Außen stülpte. Gelang es ihm nicht, ausreichend Spannungen über seinen Bewegungsdrang abzuführen, richtete er sie nach innen und litt unter starken Kopfschmerzen, sehr häufig nachts. Dann war er ein ganz kleines Kind, jammerte und wollte bemuttert werden. Anders als zu Hause bekam er jetzt kein Aspirin, sondern einen Kräutertee; es wurden ihm Geschichten erzählt, er wurde gekrault und in den Schlaf gesungen.

Für mich wurde an dieser Stelle deutlich, welche psychischen Defizite zu der vorliegenden schweren Störung geführt hatten. Wie zu Beginn erwähnt, hatte der Junge vielfache traumatische Trennungen erfahren, was zu einer Lähmung seines Phantasieerlebens und der Symbolbildung geführt hatte. Die Welt war nicht ausreichend mit symbolischer Bedeutung ausgestattet, so dass sie Sven nicht allzu sehr zu interessieren schien.

Sigmund Freud hat einmal beobachtet, wie sein Enkelkind eine Garnrolle über sein Bettchen warf, dass sie verschwand, er sie wieder zurückholte und ihr Erscheinen mit einem freudigen „Da“ wiederbegrüßte: Das Kind hatte Verschwinden und Wiederkommen der Mutter im Spiel dargestellt. Es hatte versucht, die Trennung von der Mutter symbolisch zu bewältigen. Wenn es einem Kind gelingt, sich vorstellen zu können, dass die Mutter wiederkommt, wenn es also Phantasien entwickeln kann, kann es auch Trennungen von der Mutter aushalten. Aufgrund seiner problematischen Kindheitserlebnisse, seiner traumatischen Trennung war dies Sven nur unzureichend gelungen. Erst Symbolisierungsfähigkeit gibt einem Kind die Möglichkeit, Trennungen samt den dazugehörenden Unlustgefühlen auszuhalten.

Sven hat nicht die Fähigkeit entwickelt, Trennungen mittels Schaffung von inneren Bildern, Symbolen zu bewältigen. Aus diesem Grund hielt auch die Trauerreaktion, also psychischer Schmerz über das Verlassenwerden von den Eltern, anfänglich nur kurzzeitig an. Sven weinte ein wenig. Dann führte der Junge seine Gefühle wieder rein motorisch ab, auf dem Level eines Kleinkindes. Wie der 1-jährige Enkel Freuds mit seiner Garnrolle, stellte er die Trennung von den Eltern dar, indem er sich erbrach und sich von seinem Einverleibten wieder trennte. Und trotzdem: Es war der Anfang einer Symbolbildung.

Wie bereits erwähnt, konnte er an den Dingen nicht haften, weil ihm Symbole und Phantasien nicht ausreichend zur Verfügung standen. Denn wenn die Welt und die Dinge in ihr mit keiner symbolischen Bedeutung ausgestattet ist, kann auch kein Interesse an ihr entstehen, weshalb Sven natürlich keine Kreativität entfaltete und nicht spielen konnte. Darum trug Sven auch alle Gefühle und alle Beunruhigungen körpernah in die jeweilige Gruppe, um sich psychisch zu entlasten – und infizierte diese mit seinem Verhalten. Allgemein bekannt ist ja, dass Kinder mit gestörten frühen Beziehungen mit psycho-motorischen Bewegungsmustern reagieren können, mit Daumenlutschen, mit Schaukelbewegungen oder überhaupt mit erhöhter Unruhe: Gefühlszustände, die nicht symbolisch und nicht verbal ausgedrückt werden können, werden über Körperreaktionen ausgedrückt. Und Sven war auf diesem frühen Modus fixiert geblieben.

Deutlich wurde aber auch, wie sehr der Junge seine innere Leere, die schwere Depression nicht nur mit seiner Umtriebigkeit, sondern auch über seine oralen Bedürfnisse und sein Suchtverhalten betäubte. Verstehbar wurde auch, dass die Psychopharmaka der Ersatz für fehlende Beziehungspersonen waren und das repräsentierten, was in der Psychoanalyse mit Übergangsobjekt benannt wird. Diese Funktion übernahm später, zumindest in mancher Hinsicht, der Kaugummi im Mund. Die Droge war also Ersatz-Objekt, wie auch ein Ersatz für den vorliegenden strukturellen Mangel.

Unter dem Übergangsobjekt verstehen wir übrigens jene Tücher, Stofffiguren, die vom Kind während Trennungen, Einschlafen und in allen möglichen Notzeiten gebraucht werden. Sie stehen für die Mutter, sind bereits Element der Außenwelt, aber auch noch Teil des Kindes.

Wie sich die Symbolisierungsfähigkeit langsam bildete, wie er zunehmend Trennung anders als nur körpernah symbolisierte, zeigte mir ein kleines Erlebnis mit dem Jungen. Er kam in mein Zimmer, weil er mir etwas schenken wollte. Es war die Hälfte eines Steines. Er hatte einen Kieselstein auseinandergeschlagen, so dass er in der Mitte zerbrochen war. Eine Hälfte behielt er, und die andere Hälfte bekam jetzt ich. Der Stein war deutlich getrennt. Trotzdem war er sich sicher, dass ein Teil bei ihm und der andere bei mir blieb. Trennung war also nicht mehr unmittelbar mit dem Verschwinden des Liebesobjektes verknüpft. Er konnte sich in seiner Phantasie vorstellen, dass es den anderen noch gab, auch wenn er aus dem Blickfeld verschwunden war.

Der Junge hatte damit genau den Vorgang wiederholt, aus welchem der Begriff „Symbol“ hervorgegangen ist. Symbol ist aus dem griechischen Wort „symballein“ entstanden, was zusammenfügen, zusammenwerfen bedeutet. Unter griechischen Gastfreunden wurde beim Abschied ein Gefäß oder ein Würfel zerbrochen und jeder bekam ein Stück zum Zwecke des späteren Wiedererkennens. Da Sven ganz bestimmt keine Kenntnis dieser Geschichte besaß, kann man seine Aktion sicherlich als transkulturelles Symbolhandeln und Ausdruck eines kollektiven Unbewußten im Sinne von C.G. Jung betrachten.

Zu Beginn des Aufenthaltes von Sven im Therapiezentrum konnten sich die Eltern bei Besuchen kaum von dem Jungen trennen, drängten auf mehr Besuche und versuchten, ihm weiterhin alle Wünsche zu befriedigen. Doch nach einiger Zeit begannen die Eltern allmählich ihr Interesse an ihm zu verlieren, sich immer weniger um ihn zu kümmern, riefen auch kaum mehr an, so, als ob sie ihn vergessen hätten. Damit wurde deutlich, dass sich hinter dem verwöhnenden Verhalten der Eltern, die ja keinerlei Grenzen setzen konnten und keine Frustrationen zumuten wollten, letztendlich etwas anderes verborgen hatte: Es war eine tiefe Ablehnung, letztendlich gut zu verstehen, die sich aufgrund von Schuldgefühlen vordergründig ins Gegenteil verwandelt hatte. Es konnte sich kein strukturiertes Selbst entwickeln, keine ausreichende Selbstwertregulierung und Steuerung der Affekte. Und weil sich kein Selbst entwickeln konnte, war auch keine Trennung möglich gewesen.

Dieser zentrale zugrundeliegende Konflikt, nämlich eine früh erfahrene ambivalente Haltung der Eltern zum Kind, war völlig unkenntlich gemacht und in – scheinbar sinnlose – motorische Aktionen verwandelt wurden. Die Unruhe des Jungen zeigte zwar immer noch, dass etwas nicht in Ordnung war, sie ergab jedoch vordergründig keinerlei Sinn mehr und konnte nicht mehr verstanden werden, wie es uns bei anderen psychischen Symptomen zumeist leichter gelingt.

Ziel der Therapie war – neben der Nachreifung der Ich-Funktionen bei dem Jungen – dass die Eltern ihre wahren Gefühle entdeckten. Denn ihre Verwöhnung des Kindes war letztendlich eine grandiose Lüge gewesen, zur Beschwichtigung der eigenen Schuldgefühle. Sven hatte sich zu einem Kind entwickelt, das niemand wirklich geliebt hatte, natürlich auch nicht seine späteren Beziehungspersonen. Und damit hatte er letztendlich die zugrundeliegende Wahrheit ausgedrückt: Ich werde nicht geliebt. Nachdem sie das langsam und unter psychischem Schmerz begriffen, konnten die Eltern ihr Verhalten reflektieren und verändern, konnten ihn annehmen und lieben, so wie er war. Sie vergaßen den Junge nicht mehr, aber sie mussten ihn auch nicht mehr verwöhnen. Sie konnten mit der Zeit das wahre Selbst des Jungen akzeptieren, und dieser musste nicht mehr seine tief zugrundeliegende Depression mit seinem unruhigen Verhalten abwehren. Tatsächlich wurde diese zunehmend erkennbar und der weiteren Behandlung zugänglich, so dass Sven langsam fähig wurde, seine traumatischen Kindheitserfahrungen anzunehmen.

In der Tat hatten sich Unruhe, Aufmerksamkeitsdefizite nach einem Jahr bereits soweit verändert, dass Sven eine öffentliche Schule besuchen konnte. Vor allem aber hatte sich sein Sozialverhalten gewandelt: Er hatte Freunde, mit welchen er den ganzen Tag über spielte, mit denen es den üblichen Streit gab, der jedoch leicht beigelegt werden konnte. Seine Kopfschmerzen waren so gut wie verschwunden, sie waren inzwischen „normaler“ Unlust gewichen, Gefühlen von Ärger, Zorn, Angst.

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