Erstmals veröffentlicht am
01.10.2015

Himmelstürchen und Bohnensuppe

Wie entwickeln sich traumatisierte Kinder im Osterhof?

Prof. Dr. med. Michael Günter

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Abb. 1
Abb. 2

Der Osterhof ist ein besonderer Ort, eine zeitweise Heimat für Kinder, die in ihrem kurzen Leben schon viel Schlimmes erleben mussten. Auch wenn einige statistische Daten nicht viel von dieser Besonderheit abbilden, haben wir drei Aufnahmejahre empirisch untersucht und die Ergebnisse können sich sehen lassen. Die vollständigen Daten sind in der Dissertation von Frau Nixdorf, die die Auswertungen durchführte, nachzulesen (Nixdorf 2012). Zunächst also ein paar Daten, danach werde ich anhand dreier Fallgeschichten etwas von der besonderen therapeutischen Qualität des Osterhofs darstellen.

Abb. 4
Abb. 3

Die Altersverteilung der Kinder zeigt Abbildung 1. Abbildung 2 zeigt die Zahl der Wechsel der Bezugspersonen, die die Kinder erlitten. Nur gut 20 % hatten keinen Wechsel ihrer Hauptbezugsperson zu verkraften. Abbildung 3 zeigt eine Auswahl der psychosozialen Belastungen der Familien. Familiäre Instabilität, Sucht, Gewalt und Vernachlässigung stechen hervor. Entsprechend erlitten 65 % der Kinder mehr als zwei schwerwiegende Traumata, insgesamt ist das Ausmaß der Traumatisierung erschreckend.

Abb. 5
Abb. 6

Die Art der Traumata ist in Abbildung 4 aufgelistet. Nur 37 % der Eltern waren nicht psychisch erkrankt. Die Haupterkrankungen der Eltern sind in Abbildung 5 dargestellt. Abbildung 6 und 7 zeigen den starken Rückgang der Diagnosen und der umschriebenen Entwicklungsstörungen der Kinder im Zuge der Behandlung im Osterhof. Schließlich wird in Abbildung 8 ein globaler Outcome-Wert bei Entlassung aus dem Osterhof dargestellt. Er errechnete sich als Summe aus der Einschätzung des Ergebnisses des Aufenthaltes  bezüglich der Symptomatik, des Ergebnisses bezüglich der psychosozialen Struktur und des Ergebnisses bezüglich der Elternstruktur.

Abb. 7
Abb. 8

Diese Outcome-Variablen wurden durch eine fünfstufige Skala mit Werten zwischen „völlig gebessert (5 Punkte)“ und „verschlechtert (1 Punkt)“ definiert. Die weitere Variable Prognose, die ebenfalls hinzu addiert wurde, wurde vierstufig mit den Werten „ungünstig (1 Punkt)“, „mäßig (2 Punkte)“, „günstig (3 Punkte)“ und „sehr günstig (4 Punkte)“ belegt. Die Gesamtvariable Outcome bezog sich auf diese genannten vier Variablen und erhielt damit als Addition der Punkte die Werte 4 bis 19. Gesamtwerte bis 8 werteten wir daher als verschlechtert/unverändert, Werte zwischen 9 und 15 als verbessert und Werte über 16 als stark verbessert.

Die Welt der Würfel und die Welt der Menschen

Abb. 9

Der 8-jährige Markus wurde mir vorgestellt, als er aus einer  Pflegefamilie in den Osterhof aufgenommen wurde. Er war in der Pflegefamilie seines Verhaltens wegen in eine extreme Außenseiterposition geraten. Zur Vorgeschichte wurde berichtet, dass die leiblichen Eltern drogenabhängig waren. Der Vater starb an einer Überdosis Heroin, die Mutter sei langjährig wegen Beschaffungskriminalität inhaftiert. Er und seine ältere Schwester wiesen Anzeichen einer jahrelangen Vernachlässigung im Sinne eines Deprivationssyndroms und einen desorganisierten Bindungstyp auf. Gieriges Essverhalten, aggressive Durchbrüche und Unruhe waren vorhanden, außerdem bestanden eine Enkopresis und Kotschmieren, eine Sprachentwicklungsstörung mit Dysgrammatismen und weitere Teilleistungsstörungen. Markus hatte auch im schulischen Bereich Schwierigkeiten, zeigte eine Rechenstörung sowie Retardierungen in den motorischen Fertigkeiten und der visuomotorischen Perzeption (F. 81.2, F. 82), so dass bei früheren Untersuchungen auch an ein hirnorganisches Psychosyndrom gedacht worden war. Zwei Untersuchungen der kognitiven Leistungsfähigkeit  ergaben disparate Ergebnisse: einen IQ von 82 im CFT1, jedoch einen IQ von 97 im K-ABC.

Abb. 10

Ich schlug ihm nach einem kurzen einleitenden Gespräch ein Squiggle-Spiel vor. Dabei male ich einen Kritzel auf ein Blatt Papier und das Kind darf etwas daraus machen. Danach darf das Kind einen Kritzel auf ein Papier malen und ich mache etwas daraus usw. Er malte zunächst aus meinem Kritzel ein Haus mit Gehweg und Garage (Abb. 9). Es ist, als ob er in einer Verschlungenheit der Wege ein Zuhause sucht, wo er sein kann und wo er bleiben kann, was sozusagen nochmals verdoppelt wird in dieser  Garage. Man könnte sagen, die beiden Gebäude repräsentieren den Osterhof und die Pflegefamilie. Ich malte im Gegenzug aus seinem Kritzel eine Burg (Abb. 10), identifizierte mich also mit seinem Wunsch nach einem festen Zuhause, nach einem sicheren Ort für ihn. Er reagierte darauf, indem er in skurriler Weise aus meinem Kritzel eine Gegenüberstellung einer Welt der Würfel und einer Welt der Menschen machte (Abb. 11). Er erklärte dazu, dass die Würfel lebendig seien. Die sprängen auf die Zahl, die man sich wünsche. Er malte dann jeweils Eingänge in die verschiedenen Welten, in der Mitte und rechts unten mit einem Klingelknopf, den er mit K bezeichnete, so dass man hineingelangen konnte. Ich empfand dies als eindrückliches Bild für sein Bedürfnis, sich irgendwo zu verorten. Auf der anderen Seite war seine Welt der Würfel auch eine magische Welt, in der plötzlich Dinge passierten, die man überhaupt nicht voraussah oder erwartete, wie es ja tatsächlich in seinem Leben der Fall war. Sie stellte daher in meinen Augen auch eine bedrohliche Welt dar, die außerdem vollkommen unlebendig erschien. Diese Bedrohung wehrte er durch magisch-omnipotente Manöver ab: Er wünschte sich etwas und das traf dann ein. Die Würfel sprangen auf die gewünschte Zahl. Sein eigentlicher Wunsch war aber, Zugang zur Welt zu erhalten und selber die Möglichkeit zu bekommen zu bestimmen, wo er hinkommt: dass er zu Menschen kommt.

Abb. 11
Abb. 12

Stattdessen baute er anhand seines eigenen Kritzels diese magisch bedrohlich skurrile Welt aus. Ich musste genau malen, was er vorgab. Ich sollte also ebenfalls unter seiner omnipotenten Kontrolle stehen, was eine Spiegelung des Springens der Würfel in unserer Beziehung war. Alles wurde so, wie er es sich wünschte und dies war wiederum verständlich als magische Operation, die dazu diente, der Gefahr, die in seinem Erleben in Beziehungen verborgen lag, zu entkommen. Ich musste ein Krokodil mit riesigen Zähnen malen (Abb. 12) und dann einen Elefanten mit Rüssel und Stoßzähnen. Dies seien Fantasietiere, sie seien mit Haut miteinander verbunden, die Krokodilzähne seien die Zähne des Elefanten und die Stoßzähne seien die Zähne des Krokodils und mit dem Rüssel könne der Staub aufsaugen, das sei eine Putzmaschine. Wenn ein Einbrecher komme, könne das Krokodil beißen, und wenn er Dreck mache, sauge er auf und das werde dann ins Krokodil hinein und dort zu Erde gemacht. Seine verworrene Geschichte drehte sich also um ganz archaische Dinge wie Einbrechen, Verschlungen-werden, Einverleibt-werden usw. Es ging auch um primitive aggressive Dinge, die er an dieser Stelle in der Fantasie ausarbeitete und es ging darum, dies alles magisch zu kontrollieren, indem ich es genau so malen musste, wie er dies wollte.

Abb. 13
Abb. 14

Als Nächstes malte er aus meinem Kritzel einen Fisch mit riesigen Zähnen (Abb. 13). Das sei ein Fantasietier, das noch gefährlicher sei. Es seien alles Zähne. Er fand schließlich doch noch einen Ausweg für diese gefährliche Konstellation. Die Fische könnten sich manchmal retten, weil der große manchmal Fische ganz herunterschlinge. Die kleinen möge er nicht so (die blieben aber ganz), während den Hai zerkleinere er. Dies uferte im Weiteren aus, der Hai fraß den Fisch und er (das Fantasietier) fraß den Hai und zerkleinerte ihn, damit er viel Fleisch hat. Und hinten (der Schwanz rechts) könne er sich selber beißen und kratzen. Alles wurde somit über wuchert von aggressiven destruktiven Fantasien und selbst das Opfer, der Hai, war noch mit extrem destruktiven und gefährlichen Zähnen bewaffnet und selber wieder einer, der kleine Fische verschlang. Nur durch die eigene Kleinheit konnte man sich vielleicht noch retten. Womöglich war das sein vorwiegender Abwehrmechanismus, sich unsichtbar zu machen. Bemerkenswert war, dass er andererseits aufgrund der Vernachlässigung ein gieriges Essverhalten entwickelt hatte,  dass nahe lag, dass die von ihm dargestellte destruktive Gier auch Teil seines Selbsterlebens und seiner unbewussten Fantasien über sich selbst war: Er erlebte sich unbewusst selbst als jemand, der die Mutter, die schwer drogensüchtig war, kaputtgemacht hatte.

Abb. 15

Markus baute im nächsten Bild diese destruktive Welt mit einem Totenkopf weiter aus (Abb. 14). Er erklärte dazu, dass der Totenkopf in der Mitte des Blattes den Menschen oben festhalte, damit er (der Mensch) nicht herunterfalle. Er ziehe den aber auch herunter, dann sei der auch tot. Das sei der rote Fleck rechts unterhalb des Totenkopfes. Daneben sei etwas, von dem er meinte, er sage es gar nicht, was es ist. Stattdessen ließ er mich raten. Er gab mir den Tipp, es sei das, mit was wir denken, also das Gehirn. Er schüttelte sich dabei richtig vor lauter Ekel. Man könnte sagen, er brachte auf den Begriff bzw. ins Bild, dass auch Denkfunktionen zerstört wurden. Womöglich spielte seine Darstellung auch auf seinen Ekel an, der ihn ergriffen haben mag, wenn die Mutter unter Drogen stand und kombinierte dieses Erleben mit der Zerstörung von Denkfunk tionen. Der Fischotter, so Markus weiter, habe das Fleisch abgegessen und die Haut liegenlassen. Der blaue Punkt oberhalb des Totenkopfes mit dem Strich dazwischen sei das Gehirn und die Figur daneben sei die Haut. Die Destruktivität ging so weit, dass der Körper auseinanderfiel. Anfangsl lachte und kicherte Markus beim Malen dieses Bildes ziemlich, sozusagen in Vorbereitung dieser grauseligen Szene. Ich sprach ihn daher auf seine Angst an. Er gab zur Antwort, er möge Alpträume, aber wenn das echt passieren würde, hätte er Angst. Die initiale manische Abwehr machte nach und nach einer ernsthaften Beschäftigung mit seiner Angst Platz.

Abb. 16

Ich kündigte vor dem nächsten Bild an, dass jeder noch eines malen könne. Er machte es mir mit großer Lust schwer, indem er einen chaotischen Kritzel hinmalte (Abb. 15). Er lachte, als er fertig war und sagte „fertig“. Dann erklärte er mir wieder, was ich zu malen hätte, was ich dann auch brav machte. Er meinte zunächst, ich solle eine Burg malen oder einen Elefanten oder eine Raubkatze oder  einen Fischotter oder ein Krokodil. Die Burg, so sagte er,  stehe auf der Dorne. Der Elefant müsse auch auf einer Dorne stehen. Der Mensch stehe ebenfalls genau auf einer Dorne. Alle würden gestochen, nur die Ute (die Erzieherin im Osterhof) stehe nicht auf einer Zacke. Auch der Hund werde zweimal gestochen. Die müssten alle zur Ute, nein, die müssten alle zur Burg. Er versammelte nochmals alles, den Elefanten von vorher, die Gefährlichkeit und die Destruktivität, nun aber auch genau gegenüber die von mir gezeichnete Burg, die er hier wieder aufnahm und die Ute, die er offensichtlich als stabil und entlastend erlebte. Beides brachte er miteinander in Zusammenhang, so dass ich davon ausging, dass er etwas von seiner inneren Welt und der Notwendigkeit, Dinge zusammenzubringen, verstanden hatte.

Abb. 17

Schließlich malte er aus meinem letzten Kritzel einen „Einkaufs-Känguru-Roboter“ (Abb. 16), der springe im ganzen Laden herum und vorne mache man Dinge rein. Und vorne oben habe das ein paar Pfeile, falls es angegriffen werde. Die Pfeile wurden von ihm dann noch übermalt, vorne an der Schnauze. Der Mensch bediene den „Känguru-Einkaufs-Roboter“, so erklärte Markus und ergänzte den Menschen. Ich fragte, ob das der Markus sei. Nein, der heiße Ute, den müsse man beim Einkaufen mitnehmen. Erneut erfand er ein skurriles kombiniertes Objekt, das einerseits viel mit der Ute und ihren Versorgungsfunktionen zu tun hatte, andererseits aber auch das Roboterhafte der Mutter aufwies, wenn sie unter Drogen war. Zum Dritten erschien dieses Objekt wehrlos bedrohlichen  Angriffen ausgesetzt und wurde dann selbst bedrohlich. Auch dieses letzte Bild empfand ich als Darstellung seiner skurrilen inneren Objektwelt, die deutlich bizarre Züge trug.

Abb. 18

Eineinhalb Jahre später traf ich Markus erneut zur Abschlussuntersuchung, da er aus dem Osterhof entlassen und wieder in seine Pflegefamilie zurückkehren sollte.

Er machte aus meinem ersten Squiggle einen Luftballon (Abb. 17), der von ihm gleich auch noch farbig angemalt wurde, vielleicht etwas zu positiv und überschwänglich. Aus meinem zweiten  Kritzel entwickelte er eine Bohne und einen Alien (Abb. 18). Der Alien pflanze die Bohne ein, wenn er mehr habe, mache er dann eine Bohnensuppe daraus. Ich war beeindruckt, wie humorvoll er dies vorbrachte, wie wenig im Vergleich zu unserem ersten Gespräch das Thema Alien noch bedrohlich war und wie sehr er in der Lage war, eine gute Versorgung zu entwickeln, was bei mir die Hoffnung erweckte, dass er einiges aus seinem Aufenthalt in dem Heim mitnahm. Aus weiteren Kritzeln malte er unter anderem einen gut konturierten und standfesten Baum. Insgesamt stellte sich also eine eindrucksvoll veränderte und sehr stabil erscheinende Identitätsentwicklung auf einem ganz anderen psychischen Niveau dar.

Krokodilschwanz und Himmelstürchen: Kevin 4 ½ Jahre

Abb. 19

Kevin wuchs bei seiner Mutter auf, die von sich selbst sagt, dass sie bei kleinsten Frustrationen völlig außer sich gerate. In der Familie lebte noch ein erwachsener Halbbruder und – bis zu seinem gewaltsamen Tod – der sogenannte Großvater Kevins. Letzterer wurde als äußerst brutal beschrieben, er habe beispielsweise im Zorn den Hund der Familie mit dem Beil erschlagen. Er war der frühere Schwiegervater, nunmehr aber der Partner der Mutter. Mutter und Bruder enthaupteten den Großvater Kevins/Partner der Mutter, als Kevin etwa 3 ½ Jahre alt war, woraufhin er in ein Kinderheim kam und von dort ein Jahr später in den Osterhof.

Abb. 20

Kevin wurde als unruhig, laut und grob zu anderen Kindern einerseits, ängstlich andererseits beschrieben. Er konnte kaum spielen. Unvermittelte heftige Aggressionen brachen bei kleinsten Frustrationen auf. Er rannte dann auch weg.

In der Untersuchung bei mir lachte er mich immer wieder unsicher an. Ich schlug ihm ein Zeichenspiel vor, bei dem wir wechselnd aus einem Kritzel etwas malen sollten. In seinem ersten Bild (Abb. 19) malte er unter meinen Kritzel etwas, was er flüsternd als „Schwanz“ bezeichnete. Das sei ein Krokodilschwanz. Eine „Nase“ kam  hinzu, sodann zwei „Reifen“, also ein Auto. An dieser Stelle lachte er wie ein Rumpelstilzchen. Dann wurde das Gebilde zum Schiff und schließlich zum „Flieger“: „der fliegt durch den Himmel, der fliegt zum Himmelstürchen“.

Abb. 21

Ich griff in meiner Zeichnung (Abb. 20) dieses „Himmels türchen“ auf, er fügte sodann „Haare“ an der Himmelspforte hinzu. Seine beiden nächsten Zeichnungen stellten Schlangen dar, die „krabbeln“ (Abb. 21 + 22). Die eine verwandelte sich im Weiteren in eine Schildkröte. Als ich mich mit ihm darüber unterhielt, dass die sich in ihren Panzer verkriechen könne, antwortete er mir, die könne nicht weg. Die habe gesprochen, habe die Schlange aufgebissen. Es gebe  einen Schrank mit allen Kleidern. Die Schildkröte habe den Schrank kaputt gemacht. Schließlich wurde aus dem letzten Kritzel ein Vogel, der fliegt (Abb. 23). „Nein, das ist ein Luftballon“. Als ich sagte, da könne man hineinpieksen, dann platze der, stürzte er sich auf diese Bemerkung: „ich will pieks machen“. Er  piekste mehrfach heftig mit seinem Stift hinein. Schließlich zeigte und schilderte er mir ausführlich und detailliert seine Verletzungen an verschiedenen Fingern und schilderte mir eindringlich, wie am Finger etwas abgeschnitten wurde und viel Blut floss. Man sei mit dem Helikopter zum Doktor geflogen. Diese Schilderung dieser Szene wiederholte er mehrfach.

Abb. 22

Es ist unmittelbar nachvollziehbar, wie Kevin voller Ängste, aber auch voller aggressiver Fantasien ist. Beides, Angst und Destruktiviät vermischten sich in für ihn unverständlicher Weise, so dass er die Kontrolle über sein Denken verlor. Aggression (Krokodilschwanz), Flucht (Reifen, Schiff, Flugzeug), Rettung (Himmelstürchen, vielleicht ist auch der Opa im Himmel) gingen wild durcheinander und er kam in eine immer schnellere Abfolge dieser inneren Zustände: Schild kröte beißt die Schlange auf, macht den Schrank kaputt, Vogel fliegt, Luftballon, Helikopter, Doktor. Das Greifbarste ist noch die Angst, dass etwas abgeschnitten wurde. Bezüglich des großväterlichen Kopfes wurde ihm das sicher nicht erzählt, es beherrschte aber seine Fantasie. Wichtig erscheint mir im Sinne des oben Gesagten zweierlei: die Fixierung an aggressive Inhalte, die er nicht mehr aus dem Kopf bekam und die Zerstörung eines geordneten Denkens, das erst die Verarbeitung heftiger Gefühle möglich machen würde. Die Zerstörung des Denkens empfinde ich als noch schlimmer als die im Zusammenhang mit Traumata häufig ins Feld geführten Intrusionen und Flash-Backs. Letztere schaffen immerhin noch eine, wenngleich von Angst geprägte Ordnung in der Welt. Die Zerstörung der Fähigkeit, geordnet zu denken, die wir bei diesem kleinen Jungen sahen, gab ihn schutzlos dem Gefühl von Ohnmacht und Verwirrung preis. Er verstand weder sich noch die Welt.

Abb. 23
2 Jahre später:

Zunächst hat sich bei Kevin im Osterhof das Vollbild einer schweren Traumatisierung entwickelt mit verschiedenartigsten Ängsten, Panik, wenn er Blut sieht, aggressiven Attacken, sadistischen Tendenzen, Kleben an Erwachsenen, Einnässen tags und nachts, stundenlangem Staubsaugen.

Diese Auffälligkeiten waren deutlich, wenngleich in kleinen Schritten, zurückgegangen. Blut hatte an Bedeutung verloren, kleine Verletzungen führten nicht mehr zu großer Angst, er hatte sehr viel weniger Ängste, konnte bis zum Aufstehen im Bett bleiben und war außerhalb des Hauses relativ sicher. Im Haus selbst tauchten die bedrohlichen Momente weiterhin auf, er schreie schnell und behaupte, er werde geschlagen oder gebissen. Auch schulisch war er noch nicht altersgerecht. Das Einnässen am Tag war verschwunden, er wurde viel gelöster und offener erlebt. Die Geschichten, die er zu erzählen begann waren nicht mehr so inkohärent und abstrus, sondern begannen Sinn zu machen.

Squiggle-Spiel mit Kevin:

Nach einigen Bildern kamen wir ins Gespräch und er ent wickelte eine komplexe Geschichte: Es ging um ein Auto mit Tank, das  einem Polizisten gehöre und fahre und fahre. Er machte ein Auto mit Tank und entwickelte eine Geschichte, dass der Räuber abgeschossen werde, da falle der um. Der Räuber säge Bäume. Er  stehe wieder auf, setzte Bäume und macht Feuer. Dann gehe er in den Knast. Mit dem Jäger, so Dustin auf Nachfrage, mache er  Feuer. Der Räuber hacke Holz. Entweder er tue das in den Kamin, um Feuer zu  machen. Der mache das warm. Der Jäger schaue, ob alles gut ist und nichts verbrennt, das Haus.

Zusammenfassend also setzte sich Kevin an dieser Stelle, so  meine ich, mit dem Hacken auseinander und damit, ob dies zerstörerisch sei oder aber auch gut und hilfreich sein könne. Ich empfand dies als eindrucksvollen Denkprozess: Im ersten Teil war es noch schlicht die Polizei, die aber nicht in Verbindung stand, und das Ganze wirkte, wenn man ernstnimmt, was er sagte, wie getrieben. Das Auto fährt und fährt, aber es gibt kein Haus oder einen Rastplatz oder Ähnliches. Dann wurde es geordneter, zum Räuber kam der Jäger als hilfreiches Objekt hinzu, das aufpasste, dass nicht alles verbrennt.

Nach 3 Jahren:

Kevin konnte mittlerweile viel mehr Nähe zulassen und genoss beispielsweise das Vorlesen beim Zubettgehen sehr. Er musste  allerdings immer noch Nähe und Distanz selbst regulieren, jedoch musste er emotional dichte Situationen nicht mehr destruktiv zerstören, wie dies früher der Fall war. Er wirkte entspannter, freudiger gestimmt und zeigte eine deutlich wachsende Beziehungsfähigkeit: Nach der Feriengruppe auf dem Bauernhof hatte er das Bedürfnis, der Betreuerin zu schreiben. Er malte ein Bild und ließ dazu  schreiben: „weil es so schön war“, kümmerte sich um Adresse, Briefumschlag und darum, dass der Brief auch abgeschickt wurde. Seine Ängste bestanden weiterhin, waren jedoch reduziert.

Scarlet

Die fünfjährige Scarlet kam aus desolaten familiären Verhältnissen in den Osterhof. Sie hatte zehn Bezugspersonen- und Umfeldwechsel hinter sich. Sie zeigte autoaggressives Verhalten, heftige Wutanfälle, kam nicht zur Ruhe, wachte nachts auf, nässte ein, erstarrte häufig, weinte und zeigte eine ausgeprägte motorische Unruhe. Sie hatte zusätzlich eine Mikrozephalie und kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen. Die Mutter war von Anfang an nicht in der Lage gewesen, das Kind angemessen zu versorgen, sodass bei ihr schließlich eine frühkindliche Bindungsstörung entstanden war. Bei der Untersuchung bei mir wirkte sie distanzlos, fragmentiert, inkohärent in ihren Erzählungen, die teilweise fast sinnlos erschienen. Sie war kaum in eine Beziehung zu bringen gewesen und wirkte affektiv flach.

Zwei Jahre später erlebte ich bei der Entlassuntersuchung ein Kind, das im Gespräch sehr bezogen, gegenüber dem letzten Mal völlig verändert erschien. Auf meinen Vorschlag hin malte sie ein Haus. Sie führte aus, dass das Zimmer mit den schwarzen Vorhängen ein Jungenzimmer sei, da wohne ihr Freund Justus. Ansonsten wohnen noch ihre Freundin, die Mama und die Johanna dort. Sie malte dann auf Nachfrage auch noch Fenster hinein. Da kamen Scarlet und  Johanna einerseits und Herr Schmid und Justus andererseits hinzu, die Mama fehlte. Ich traf also auf ein völlig verändertes Kind, das sich extrem positiv entwickelt hat. Die frühere Fragmentierung und Bindungslosigkeit hatte nun einer intensiven Bezogenheit und Beziehungsfähigkeit Platz gemacht. Berichtet wurde allerdings, dass sie nach wie vor sehr stark auf Orientierung, Beachtung, Struktur und Beziehungsangebote angewiesen war. Von daher war es gut, dass sie in eine stabile Pflegestelle kam.

Was hilft den Kindern, sich im Osterhof zu entwickeln?

1. Zunächst: Struktur, Verlässlichkeit, Rahmenbedingungen, die  Sicherheit geben

2. Beziehungen, die verlässlich und menschlich sind, auf die man bauen kann

3. Professionalität, Reflexion der emotionalen Verwicklungen, in die man gerät. Traumatisierte Kinder haben ein enormes  Potential projektiv-identifikatorischer Prozesse. Sie reinszenieren die Albträume, unter denen sie leten nicht nur mit wechselnden Rollen, sondern sie induzieren unerträglich Gefühlszustände im Gegenüber, die, an denen sie selbst zerbrochen sind und zerbrechen.

4. Begrenzung der Zeit, was zum einen heißt, keine falschen Versprechungen darauf, dass alles gut werde und andererseits ist sie auch eine Verpflichtung auf eine gemeinsame Arbeit: daher Himmelstürchen und Bohnensuppe.

Was ist das Verhältnis von Menschlichkeit, Strukturgebung und Professionalität?

Eine tiefe Menschlichkeit ist unverzichtbar, sie läuft aber Gefahr, blind zu sein gegenüber der Gewalt der Traumata und ihrer  Inszenierungen, blutet aus und schlägt schließlich um in Abweisung oder rigide Kontrolle. Sie muss daher professionell reflektiert sein. Professionalität ihrerseits ist in Gefahr, in pure Technik, in „effizientes“ Traumamanagement umzuschlagen. Sie bedarf daher der ständigen Rückbesinnung auf das, was Menschen brauchen, um wachsen und sich entwickeln zu können, auf eine im Alltag gelebte, durch Theorie abgesicherte Menschlichkeit.

Beides in einzigartiger Weise zu verbinden – und das schon in der zweiten Generation – ist Ihnen Herr Schmid und ist Dir, lieber Martin, gemeinsam mit Deinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wunderbar gelungen. Ich wünsche Euch und den Kindern, die einen solchen Ort nötig haben, noch viele, viele gute Jahre.

Literatur: Nixdorf, M. (2012): Psychosoziale Charakteristika, psychopatho logische Auffälligkeiten und Verlauf bei Kindern nach Aufnahme in einem  therapeutischen Kinderheim. Diss. Tübingen
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